Ganz normale Tage by Anna Irmgard Jäger
Autor:Anna Irmgard Jäger
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Marta Press
veröffentlicht: 2023-04-15T00:00:00+00:00
Poren als Atlas
Manchmal frage ich mich, ob ich süchtig bin, süchtig nach der Vergangenheit... Ich denke, ich bin süchtig. Eine Sucht beinhaltet für mich, dass der Inhalt der Sucht nie gesund ausgeht, nie gute Konsequenzen hat. Ich glaub, ich bin süchtig nach der Vergangenheit. Kann die Vergangenheit gut ausgehen? Das ist doch unmöglich. Und das macht mich zur Süchtigen, denn ich liebe das Unmögliche.
Oft nehme ich mir vor aufzuräumen und dann ende ich liegend auf dem Boden und schaue mir stundenlang Fotos an, mache mir traurige Musik an und schaue. Es ist so, als würde ich es eigentlich schon wissen, dass ich Fotos anschauen werde. Es ist nur überraschender, wenn ich es vorher als aufräumen betitele, als wäre spontan was passiert, womit ich nie gerechnet hätte, um dann später zu sagen, wie spannend und abenteuerlich mein Leben doch ist. Ich mag spontane Dinge, denn wenn ich sie plane, fülle ich sie mit zu viel Erwartungen, und es kommt manchmal nichts Gutes bei rum, auÃer vielleicht eine Enttäuschung. Und um mich vor Enttäuschungen zu schützen, eignete ich mir diese Gewohnheit an, nämlich so wenig wie möglich zu erwarten. Ich liebe es, auf meine eigene Illusion reinzufallen. Denn es ist meine, und die kann mir keiner nehmen, keiner missbrauchen.
Mein Gesicht zeigt mir sehr deutlich, was Sache ist, um genauer zu sein: meine Haut. Um noch genauer zu sein: Unsere Haut zeigt uns ganz genau, was Sache ist. Genauigkeit.
Poren, Poren, Poren. Meine Poren erzählen mir ganz genau, was ich zu tun hab.
Wenn wir Kinder sind, haben wir glatte, weiche, zarte Haut, keine Poren in Sicht. Je länger wir leben, desto gröÃer werden unsere Poren. Sie schreien nach Luft, nach Erleben, nach Leben. Eine Pore kämpft um ihr Leben. Die Poren werden gröÃer, und die Haut schreit: Fülle mich, fülle mich mit Erfahrungen. Gierig und trotzig wachsen die Poren und bohren nach Leben. Als ich meinen Freund, einen goldenen Totenkopf auf meinem Schreibtisch, ansah, Auge in Auge, erblickte ich die Ehrlichkeit und Schönheit dieser toten Knochen, nämlich dass wir alle, alle, alle, alle ohne Ausnahme im Innersten, Tiefsten immer lachen. Ein Totenkopf lacht immer.
Es ist nicht nur ein Lächeln oder Schmunzeln, es ist ein Totlachen. Jeder Totenkopf grinst breit. Unser Lachen wird nur mit einem Vorhang namens Haut bedeckt und verborgen. Das Lachen im Verborgenen war das, was mich am meisten interessierte. An mir. An dir, an uns und an den Tieren, vor allem an den Wüstenfüchsen. Und so auch die Pore, die sich langsam mit den Jahren öffnet, um das verborgene Lachen zu offenbaren.
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